TSCHECHISCHE MODERNE KUNST
Die
tschechische Kunst der Jahrhundertwende kann als Phänomen des Überganges,
als ein Prozeß oder eine Transition gelesen werden. Es sind Bewegung, Veränderung
und Fluß, die die Zeit kennzeichnen. Zunächst traditionell anmutende
Konzeptionen - wie etwa das Landschaftsgemälde - bergen bereits Übersetzungen
in die Formensprache der Moderne. Diese transitorischen Kennzeichen mit
ihrer Latenz der Abstraktion, die in vielen Werken zu erkennen sind,
betreffen nicht nur die Formensprache, sondern auch die Themen und
Konzeptionen. Deutlich wird ein metaphysischer Charakter der Ideenbildung,
der abstrakter Formgebung vorausläuft. Eine Suche nach neuen Denksystemen
und Weltkonzeptionen in spiritueller wie in kunsttheoretischer Hinsicht,
die in der konventionellen Rezeption der Moderne des 20. Jahrhunderts häufig
vergessen wird. Die Abstraktion erscheint vielfach als Resultat des
aufgeklärten Bewußt-seins und als künstlerisches Pendant der
rationalen, eben der "modernen" Welt. Die tschechische Kunst der
Jahrhundertwende präsentiert solche Ideenbildungen, sie zeigt die
subtilen Hintergründe der Brechungen, die exemplarisch für den Entwurf
der Moderne stehen. Es sind intensivierte Suchbewegungen nach neuen
Konzepten und neuen Formen, die die bewußt gewordene Krise der Zeit überwinden
sollten. Sie bewegen sich entlang den Traditionen des endenden 19.
Jahrhunderts, nehmen aber fast unmittelbar alle revolutionären Neuerungen
der Zeit der Jahrhundertwende auf - sei es die Kunst Edvard Munchs oder
die kubistische Revolution -und schaffen eine, wiederum neue, Synthese mit
eigenständigen Kunst- und Denktraditionen. Die Resultate sind in dieser
Aufbruchstimmung vielgestaltig, es entstehen viele neue Positionen, zu
deren zentralem Verfahren das Experiment wird. Der bedeutende Repräsentant
der tschechischen Moderne, der Dichter Karel Hlavacek hat in der
Einleitung seiner Gedichtesammlung, die bezeichnend "Spät am
Morgen" genannt wurde, mit einem Satz die tschechische
Kunst
gekennzeichnet, die in sensibler Reaktion auf die revolutionären
Wandlungen in europäischen Kunstmetropolen eine neue Selbstdefinition
suchte - "Ich verweigere ein festgeschriebenes Debüt". Dies drückt
nicht nur den Charakter seines eigenen Werkes aus, sondern beschreibt den
der gesamten tschechischen Kunst des ausklingenden 19. und beginnenden 20.
Jahrhunderts. Das, was Hlavacek aussprach, wurde gleichzeitig zum Programm
der tschechischen Moderne. ".. .der erschöpfende Kampf um eine
eigene Differenz im Anprall anderer und starker Individualität und
fremder künstlerischer Methodik." An einem Ort der künstlerischen
Traditionen, wie sie durch die alte böhmische Kunst vorgegeben war, der
sich zugleich zu einem Ort der Begegnungen verschiedener Kulturen und
Paradigmen entwickelt hatte, konnte in der Zeit einer sich formierenden
Welt des 20. Jahrhunderts kaum eine homogene und gefestigte Haltung
entstehen, wie wir sie rückblickend in anderen Zentren Europas zu
erkennen glauben.
Allerdings
entstand hier durch die Dynamik widersprüchlicher Einflüsse ein
einzigartiger kreativer Prozeß, dem Hlavacek ein großes Potential
zuschrieb. Hlavacek beschrieb diesen Prozeß mit großer Sensibilität,
wenn er über sein Werk sagte - ".. .eine allmähliche Formierung des
Kristalls aus heftig reagierenden Lösungen ... eine allmähliche
Formierung von Kanten und Wänden mit neuen, unbekannten Winkeln und nach
bisher ungelösten Gleichungen ..."
Die
Betonung des Wortes "allmählich" charakterisiert die
wesentlichen Leistungen der tschechischen Kunst. Sie drückt eine
bestimmte Sehnsucht nach dem Neuen in der Kunst aus, die anders zu
charakterisieren ist als ein logischer und eindeutiger
Entwicklungsschritt. Hlavacek wollte einen nicht voraus berechneten und
nicht erwarteten Ausdruck finden. Ähnlich formulierte es der Dichter
Otakar Brezina in den Essays zur Kunst: sie sollten Antworten auf noch
nicht formulierte Fragen geben, deren Sinn im Geheimnis des Unbekannten
lag.
(Vergangene
Zukunft,Tomas Vlcek, Ausstellungskatalog, 1994)
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